Wie klingt Bern?
Es wird spannend, wenn man anfängt hinzuhören, wie die eigene Stadt tönt, von der man glaubt, sie längst in- und auswendig zu kennen – eine sinnliche Erfahrung, die nochmal ein ganz anderes Bild vermittelt.
Ja, wie klingt eine Stadt? Gibt es da mehr als diesen konstanten Lärm, etwas, das sie vielleicht auch von anderen Städten unterscheidet? Oh ja, ich behaupte sogar, jede Stadt hat ihren ganz eigenen unverkennbar typischen „sound“. Dazu gehören zuerst und vor allen anderen die geschichtsträchtigen Klänge, die uns in die zeitlichen Tiefen einer Stadt versetzen. In Europa sind dies die Kirchenglocken. Kennt nicht jeder die Töne von „Big Ben“ oder das Kirchengeläut seiner eigenen Heimatstadt? Und natürlich hat auch die moderne Zeit ihre „artentypischen“ Geräusche hervorgebracht, welche die einzelnen Quartiere eines Stadtbilds prägen und akustisch erlebbar machen können: Das Quietschen von Tramschienen, Bars, Autosirenen von Polizei und Feuerwehr, Baustellen, Pausen- und Spielplätze…
Im Berner Aarebogen, wo ich zuhause bin, ist es der Zytglogge. Jeder Altstadtbewohner weiss: Der Hahn gibt mit seinem blasebalg-kreierten Krähen den Auftakt, worauf sich die weltberühmten Figuren zu den Tönen der Viertel- und Stundenglocke zu drehen beginnen. In neuster Zeit vermischt sich mit diesen oft auch das Piepen des 12er Busses, der sich langsam durch die mitten im Fahrweg stehenden und den Zytglogge bewundernden Touristenmassen hindurchquält und so auf sich aufmerksam zu machen versucht.
Ich habe bei zufälligen Begegnungen mit einer früheren Nachbarin über meine „klanglichen Stadtwahrnehmungen“ gesprochen, wusste ich ja, dass sie als Professorin am musikwissenschaftlichen Institut der Uni Bern arbeitet, und sich demnach für alles, was tönt, professionell interessiert. Das war der Beginn der Idee einer Stadtführung ganz anderen Art…
Professorin Christina Urchueguia erforschte zusammen mit ihrer Kollegin, Professorin Britta Sweets, und ein paar Studenten der Musikwissenschaft die Berntypischen Geräusche und Klänge und kam zum Ergebnis, dass Bern in verschiedene Klangebenen und –Gegenden unterteilt werden kann. Die Basis macht das tosende Wasser der Aareschwelle. Geht man den Muristalden hinauf, da mischen sich in den aufkommenden Verkehr zuweilen noch die Glocken der hier weidenden Schafe – Landidylle trifft Stadtleben. Oben angekommen unterscheiden wir die Töne der verschiedenartigen Altstadtgassen mit ihrem regen Geschäfts- und Restaurantleben unter den Lauben. Auffallend auch die unzähligen Touristengruppen mit ihren fremdartigen Klängen und den typischen Geräuschen, wenn Rollköfferchen über „Bsetzisteine“ gezogen werden. Erinnern wir uns doch bei dieser Gelegenheit auch kurz an den Lärm, den früher die Kutschenräder in den damals noch steileren Altstadtgassen machen mussten! (Ich könne Ihnen dabei gleich auch zeigen, wo Mozart auf seiner Europareise einst seine Kutsche untergestellt hat…).
Man kann die untere Altstadt – von der Matte und der Längmuur unten und vom Nydegghof bis zum Münsterplatz oben – beispielsweise auch via ihre neun meist hölzernen Treppen (mit insgesamt 925 Stufen!) erkunden. Kenner meinen, die einzelnen Treppen an ihren unterschiedlichen Klängen erkennen zu können. Versuchen sie’s! So tun sie gleichzeitig auch etwas für ihre Fitness… Oder steigen sie auf den Münsterturm und hören sie der Stadt von ganz oben zu. Wieder unten in der Berner Altstadt sind wir natürlich auch den elf typischen Figuren-Brunnen aus dem 16. Jahrhundert begegnet, die zum mittelalterlichen Stadtbild gehören. Möglicherweise hat – für ein sehr feines Gehör – eine jede von ihnen ihren ebenfalls ganz eigenen Klang.
Inzwischen war es soweit, dass ich aus eigener Erfahrung und aus den vielen Anregungen der vorher erwähnten musikwissenschaftlichen Studie eine eigene Klangführung durch Bern erarbeiten konnte.
Sie beginnt auf dem Bundesplatz: Er ist mit seinen oftmals auch musikalisch eingerahmten internationalen politischen Empfangszeremonien der – hörbar – zentrale Ort unserer Stadt, das heisst, hier kommt deutlich vernehmbar der rituelle Aspekt der Klänge zum Ausdruck: Blas- und Militärkapellen spielen, Staatskarossen fahren vor, womöglich gibt es ein paar aufschreckende Böllerschüsse und manchmal auch ein paar am Rande revoltierende Demonstranten. Jedenfalls lässt der Bundesrat hier nicht mit sich spassen und schaut streng darauf, dass seine politischen Empfänge eng mit dem Militärritual als Teil des international gültigen Protokolls verknüpft sind. Das heisst dann auch, Alphornspieler sind nur während der 1. August-Feier im Inneren des Gebäudes erlaubt. Mit diesem Beispiel möchte ich auch darauf hinweisen, dass jede Stadt sowohl äussere wie innere Klangräume hat. Natürlich ist der Bundesplatz nicht nur durch seine staatlichen Rituale akustisch geprägt, er besitzt eine vergleichsweise wirklich sehr ungewöhnliche Vielfalt an alltäglichen Klängen, ein unverwechselbares „Soundscape“ (so der wissenschaftliche Name für ein Klangbild, eine Klanglandschaft). Dazu gehören, das Wasserspiel, meist von Kindergeschrei begleitet, der wöchentliche Gemüsemarkt und zahlreiche Feste und Feiern auf grosser Bühne. Auch werden einige Sportanlässe auf dem Bundesplatz durchgeführt, zum Beispiel befindet sich hier der Zieleinlauf des jährlichen Schweizerischen Frauenlaufs, an dem die motivierende Musikkulisse durch Speeker-Durchsagen unterbrochen wird und die Siegesfeier ihren eigenen „Soundscape“ entfaltet. Im Winter tönt dann die Eisbahn wie alle Eisbahnen dieser Welt, im Gegensatz zum nächtlichen Lichtspiel an der Fassade des Bundeshauses, das jedes Jahr neu gestaltet und einmalig ist.
Weniger von einer Mischung aus Geräuschen und Klängen, sondern fast ganz und gar und ausschliesslich durch ihre Töne leben Kirchenglocken und natürlich die Musikveranstaltungen. Kirchen besitzen durch ihre Architektur unverwechselbare Klangräume. Hören Sie sich nur einmal auf dem Münsterplatz das volle Münstergeläut an! Bekannt für ihre innere Raumakustik ist vor allen anderen die Französische Kirche. In meiner Führung gehe ich kurz auch auf die Entwicklung der Berner Musikgeschickte ein: Auf die Verbote von Fasnacht und Tanzveranstaltungen nach der Reformation und die Folgen davon. Alles, was verboten wird, findet Auswege in eigenen Ausdrucksformen. Der Mensch ist sehr erfinderisch, wenn es um seine kleinen und grossen Freuden geht. Musikgeschichtliche Beispiele aus Bern sind in grosser Fülle vorhanden: So liessen die Patrizier, diese wohlhabenden, einflussreichen und regierenden Bürger Berns, von Ulrich Sulzberger das Hohelied des Alten Testaments vertonen – einen hocherotischen Text! Hören sie mit…
Auch in der heutigen Zeit kultiviert Bern sein ganz eigenes und sehr vielseitiges Musikschaffen: Von der Mundart-Liedermacher- und Rock-Szene, über die internationalen Jazzveranstaltungen und dem jährlichen kirchlichen Orgelspaziergang bis hin zu den oft experimentellen modernen und lange nicht mehr jedermann verständlichen klassischen Musikrichtungen, zum Beispiel an der l’art pour l‘aar, sind unzählige Berner Komponisten und Interpreten am Werk.
Zum Schluss darf man das gute alte Bärndütsch auf gar keinen Fall unbeachtet lassen. Was für Töne! Wir Berner finden natürlich, unsere Sprache in ihrer regionalen und ständischen Variationen sei der schönste Dialekt der Schweiz – und was Italienisch für die Oper ist, ist das Bärndütsch für unsere Chansons, unsere Rockmusik, unseren HipHop – und natürlich für unseren Alltag!
Haben sie Lust bekommen auf eine Klangtour durch Bern?