Mein Lieblingsbrunnen, der Gerechtigkeitsbrunnen in Bern
Ende Jahr ziehe ich von der Gerechtigkeitsgasse in die Hotelgasse. Ein neues Leben wartet auf mich! Noch aber betrachte ich von meinem Fenster aus oft den Brunnen in der Gassenmitte und stelle mir dabei vor: Wenn ich vor 200 Jahren hier gelebt hätte, hätte ich mein Trinkwasser jeden Tag am Brunnen holen müssen…
Die Häuser in der Altstadt sind von der Zeit gezeichnet, aber in ihrem inneren bieten sie heutzutage modernen Komfort.
Jeder der heute noch elf Figurenbrunnen in der Stadt hat seine eigene Geschichte. Bis vor 200 Jahren dienten sie alle als Trinkwasser-Spender. Der unter ihnen hindurchfliessende Stadtbach war der Brauchwasserlieferant. Und durch die Innenhöfe der Häuser verlief der sogenannte Eh-Graben, ein schmaler, niedriger Kanal, in den die ganzen „Toilettengeschichten“ wortwörtlich hinein plumpsten, und die am unteren Ende der Stadt vor dem Nydeggstalden dann in die Aare hinunter geleitet wurden
Nun aber zurück zu „meinem“ Gerechtigkeitsbrunnen und zur Figur der Justitia: Hans Gieng, ein Renaissance-Bildhauer aus Fribourg, erschuf sie 1543. Auch mindestens drei weitere Brunnen-Figuren werden ihm zugeschrieben. Er legte seiner Justitia eine Binde um die Augen und gab ihr – wie damals symbolisch üblich – das Richtschwert in die eine und die „ausgleichende“ Waage in der anderen Hand.
Dass Justitia gerade an dieser Stelle in der Gerechtigkeitsgasse steht ist kein Zufall, wurde doch früher inmitten der Kreuzung der von hier abzweigenden Kreuzgasse Gericht abgehalten. Die Rechtssprechenden sollten also immer Justitia vor Augen haben, um ein gerechtes Urteil fällen zu können. Die Augenbinde als Symbol für Gleichheit aller vor dem Gesetz haben die Berner hier erstmals dargestellt, später wurde es zum allgemeinen Symbol.
Schauen wir uns die Figur etwas genauer an: Zu Füssen der Statue entdecken wir vier Köpfe, die zum Zeichen ihrer Unterwürfigkeit gegenüber Justitia ihre Augen geschlossen halten. Sie repräsentieren die vier Säulen der weltlichen Macht jener Zeit. Der eine ist ein Papst, er trägt die Tiara und das Bischofskreuz, dann kommt ein Sultan mit grossem Schnauz und einem turbanartig umwundenen Spitzhut. Er besitzt eine Sarazenenklinge. Der nächste Kopf ist der eines Kaisers mit Krone und Reichsschwert. Der vierte ist ein Schultheiss mit Barett und goldener Amtskette.
Recht interessant finde ich, wie sich der Berner Schultheiss auf die gleiche Ebene mit dem Papst, mit dem Sultan des Osmanischen Reichs und mit dem Kaiser stellt!
Das waren für Bern damals wirklich noch die „Goldenen Zeiten“ des Ancien Régimes, denen erst Napoleon ein Ende machte. Als Napoleons Soldaten nach vier Jahren von Bern abzogen, haben sie das Schwert und die Waage entfernt, als Zeichen für eine neue Gerechtigkeit für Bern.
Unsere ehrwürdige Justitia hat auch eine bewegte jüngste Vergangenheit. Ganz schlimm wurde es für sie im Jahr 1986: Pascal Hêche, ein bärtiger Mann aus dem Lande Jura, kämpfte für die Unabhängigkeit vom Berner Jura vom Kanton Bern.
Er nannte sich selber einen „bélier“, was man mit Schafbock übersetzen kann. Das Wort bezeichnet aber auch jene Ramm-Maschinen, die kühne Kerle vergangener Jahrhunderte auf Kriegszügen mit sich führten, wenn sie durch die Mauern von Ortschaften wie Grandson oder Murten gelangen wollten. Die Rammböcke von Karl dem Kühnen scheiterten 1476 am massiven Mauerwerk dieser Festungen, aber Pascal Hêche schaffte es 1986, den Gerechtigkeitsbrunnen vom Sockel zu reissen. Er war der Ansicht, dass die Justitia, was die Anliegen seines Jura betreffe, nicht blind sei, sondern einäugig und nur auf dem Berner Auge sehe. Doch Gerechtigkeit und Recht sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Hêche kämpfte für das, was er als Gerechtigkeit empfand in seinem neuen Kanton Jura. Doch seine Taten verstiessen gegen das Recht und er wurde geschnappt und verurteilt. Seitdem gewährt ihm der Kanton Jura politisches Asyl.
Was aus ihm geworden ist, ist mir nicht Bekannt. Aber ich sehe, dass sich zurzeit wieder vermehrt ähnliche kleinnationalistisch geprägte Separations-Geschichten überall auf der Welt abspielen. Justitia hätte viel – und womöglich (im Sinn von Gleichheit aller vor dem Gesetz) auch viel fast Unmögliches – zu tun. Ach wäre es doch so einfach, mit ihrer Hilfe als richtende Göttin eine gerechte göttliche Ordnung herbeizuzaubern!